Als wir landeten war es schon dunkel. Wir stiegen aus, ich hielt Ausschau nach dem Jungen. Er war verschwunden. Mein Vater holte uns vom Flughafen ab. Im Auto war ich verdächtig ruhig. Das bemerkte auch meine Mutter, aber sie sah einen anderen Grund.
„Schläfst du schon?“ fragte sie.
„Nein, nein.“ antwortete ich.
Als wir nach Hause kamen, übergab ich meinem Bruder sein Geburtstagsgeschenk. Er war 18 geworden, als ich im Urlaub war. Danach ging ich direkt schlafen. Ich freute mich, wieder in meinem eigenen Bett zu schlafen, doch ich schlief unruhig. Ich träumte. Von ihm. Ich hatte noch nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt, bis jetzt. Ich träumte, dass ich ihn wiedersah, doch das würde in der Realität nie passieren. Ich wusste weder seinen Namen, noch wo er wohnte. Zum Frankfurter Flughafen flogen viele, auch diejenigen, die 400km entfernt wohnten. Ich sollte und ich würde ihn vergessen.
Den restlichen Sonntag beschäftigte ich mich mit übergebliebenen Hausaufgaben und chatten mit meinen Freunden. Als ich mich einloggte, stach mir ein gewisser „dein Edward“ ins Auge. Er bot mir an, mit ihm zu chatten. Edward war ein Vampir aus meinen Lieblingsbüchern, also nahm ich das Angebot an. Es stellte sich heraus, dass er ein total netter Junge war. Wir chatteten stundenlang und obwohl ich eigentlich nicht mit Fremden chattete, war er irgendwie anders. Er war vertrauenswürdig. Er fragte mich nicht nach irgendwelchen Daten von mir, wollte keine Fotos haben, wollte nicht, dass ich ihm genaueres über mich erzählte. Wir unterhielten uns über alle möglichen Dinge. Bücher, die uns interessierten, Filme, die wir mochten. Über unsere Lieblingsfarbe und unsere Lieblingsmusik. Man konnte mit ihm einfach reden. Er war ein Außenstehender. Er lenkte mich ab.
Nach einiger Zeit erzählte ich ihm von dem Jungen am Flughafen. Edward, so nannte ich ihn einfach, denn ich kannte seinen echten Namen nicht, glaubte fest daran, dass ich ihn wiedersehen würde. Ich weiß nicht wie er das tat, aber irgendwie überzeugte er mich. Ich bemerkte erst spät, dass es schon 11.00 Uhr war. Ich verabschiedete mich von „Edward“ und ging schlafen.
Am nächsten Morgen fiel es mir schwer aufzustehen. Es war früh. Zu früh. Ich zog mir an, was auf meinem Stuhl lag, putzte schnell die Zähne und ging nach unten. Meine Mutter begrüßte mich und reichte mir eine Tasse Kakao. Ich schlürfte ihn hastig und ging dann in die Garage, um mein Fahrrad zu holen. Ich fuhr die geraden und fallenden Strecken und schob, wenn es bergauf ging. Als ich im Klassenraum ankam, hatte es bereits geklingelt. Ich ließ mich auf meinen Platz zwischen meinen besten Freundinnen Daniela und Lara fallen und packte meine Mathematiksachen aus. Mein Klassenlehrer war noch nicht da. Das war nichts Außergewöhnliches. Er kam immer zu spät. Ich holte meinen Block heraus und fing an zu zeichnen. Irgendwann merkte ich an einem Lufthauch, dass Herr Fink hereingekommen war. Ich vernahm außerdem ein Männerdeo, welches ich noch nie an ihm gerochen hatte. Aber ich hatte keine Lust aufzublicken. Ich wollte den ersten Blickkontakt mit meinem verhassten Lehrer noch so lange herausschieben, wie es ging. Auf einmal stieß mich Lara in die Seite.
„Ist der nicht süß??!!“ Was? Seit wann war Herr Fink süß? Er war doch mindestens 55! Als sie mich noch einmal anstieß, blickte ich widerwillig auf. Mich traf der Schlag. Vor mir stand, immer noch genauso süß, genauso atemberaubend und genauso wundervoll lächelnd, der Junge vom Flughafen. Ich quiekte und alle starrten mich an. Ich verstummte und duckte mich verlegen.
„Also, das hier ist Tim Weisel und er ist ab heute ein neuer Schüler in unserer Klasse. Ich hoffe, ihr nehmt ihn gut auf.“ Sagte Herr Fink. „Setz dich doch bitte dort hinten hin.“ Tim, das klang wie Musik in meinen Ohren, nickte und setzte sich eine Reihe vor mich. Ich starrte ihn die gesamte Stunde an, ohne auf den Unterricht zu achten. „ Wie lautet die Antwort auf meine Frage Marie? Marie? “ Ich bemerkte Herr Fink erst, als Tim sich zu mir umdrehte und mich anlächelte. „Ähm…ich…ähm…können sie die Frage noch einmal wiederholen, Herr Fink?“ stammelte ich. „ Wenn das hier die Ankathete ist und das hier die Hypothenuse, wo ist dann die Gegenkathete?“ „Naja, ich schätze mal, die Seite die noch übrig ist oder?“ Alle lachten. Tim kicherte in seine vorgehaltene Hand. „Ja das ist richtig, aber ich hätte gedacht, du würdest dich in den Ferien vorbeireiten und dann nicht hier herum sitzen und unseren neuen Schüler von hinten anhimmeln.“ Erneutes Lachen. Ich merkte, wie ich rot wurde und immer tiefer in den Stuhl sank. Tim lächelte mich immer noch an. Oder lachte er mich aus? Ich wünschte, dieses bekannte Sprichwort „im Erdboden versinken“ würde wahr werden. Ich wünschte mir mehr als irgendwann anders, dass sich der Boden aufreißt und mich in ein schwarzes Loch zieht. Oder wie wär´s mit einem plötzlichen Erdbeben oder einem Tsunami? Nichts passierte. Immer noch starrten mich alle an. Als es endlich klingelte, rannte ich aus dem Raum, direkt zur Mädchentoilette.